Wann ist etwas, das ich nicht mitteile ein Geheimnis und wann ist Wahrheit die «ganze Wahrheit»?

Darüber haben die systemische Paartherapeutin Manuela Komorek und ich in den letzten Wochen einige Male gesprochen. Manuela hat vor kurzem den Film «Das perfekte Geheimnis» von Bora Dağtekin gesehen und ich war in einer Ausstellung im Stapferhaus in Lenzburg (CH) zum Thema Wahrheit «Fakenews – die ganz Wahheit». 

Beide waren wir inspiriert vom weiten Feld dieser beiden miteinander verbundenen Themen. Deshalb haben wir ein Weihnachtsspecial aufgenommen, um andere Menschen an einem unserer Gespräche teilhaben zu lassen. Daraus entstanden ist auch dieser Blogartikel.

«I love to lie»

Zu meinen wichtigsten Werten gehören Ehrlichkeit und Transparenz, um Vertrauen aufzubauen und zu erhalten. In meinem Alltag bin ich damit sorgfältig. Nun habe ich mir aus der Ausstellung, in der ich war, einen Ansteckknopf mitgenommen, auf dem steht «I love to lie». Aus Experimentierfreude habe ich mir den Knopf einige Tage angesteckt und ausprobiert, was es bedeuten könnte, das «Lügen zu lieben».

Es war aufschlussreich: Im ersten Moment war es für mich entspannend und ich hatte den Gedanken «Super! Jetzt kann ich alles erzählen. Ich muss nicht sorgsam darauf achten, dass ich bei der  Wahrheit bleibe.» Mit diesem Experiment konnte ich ausloten, wie es sich körperlich und emotional anfühlt und was ich denke, wenn ich meine Wahrheit nicht zuerst präzise abkläre bevor ich sie ausdrücke. Es wurde alles etwas schwammig und ich war mir meiner Gefühle und Bedürfnisse nicht so klar wie sonst. Im Verlauf der Tage konnte ich jedoch auch wahrnehmen, dass dieser etwas unklare innere Zustand für mich zunehmend anstrengend wurde. Nicht im Zusammenhang mit einem Gegenüber, sondern für mich selber. Wie angenehm ist es doch für mich, über mich selber Klarheit zu haben und mich damit in einem Gespräch einzubringen. Es geht also darum meine ganz persönliche Wahrheit zu klären. Ich tue das, indem ich meine Gefühle wahrnehme, körperlich und emotional, und meine Bedürfnisse erforsche. 

Hast du für dich erforscht, wie sich es sich auswirkt, ob du innerlich klar bist oder nicht so genau über dich Bescheid weisst? Und hast du mal bewusst wahrgenommen, wann du eine innere Realität offen ausdrückst, wann du sie beschwichtigst und wann du sie nicht ausdrückst und warum? ist es dann zwingend ein Geheimnis? Wo liegt da die Grenze und ist sie persönlich oder allgemein gültig?

Was ist was? Wahrheit, beschwichtigen, «nett sein», vermeiden, vertuschen, lügen, Geheimnis

Umgangssprachlich bedeutet Wahrheit die Übereinstimmung einer Aussage oder einem Gedanken mit dem, was tatsächlich vorhanden oder passiert ist. Das Wort hat sich aus dem indogermanischen «wēr-» entwickelt, das «Vertrauen, Treue, Zustimmung» bedeutet.(Wikipedia)

Das scheint so klar und eindeutig. Doch sehe ich immer wieder, dass diese Eindeutigkeit dadurch, wie Menschen geprägt sind verschwimmt. Prägung zeigt, welche Werte und Handlungsstrategien wir als kleine Kinder gelernt haben. Damit stehen wir im Leben und «be-werten» Aussagen, Gedanken und Handlungen. Diese Bewertung kann ganz unterschiedlich ausfallen und schon ist die «Wahrheit» nicht mehr eindeutig. 

Die eigene Prägung wird beeinflusst durch das Familiensystem und im Familiensystem können Geheimnisse gespeichert sein, von denen wir nichts wissen. Geheimnisse und Lügen können Familiensysteme zerstören, weil sich Geheimnisse weiter vererben und ganze Systeme, häufig unbewusst, blockieren. Sehr gut sichtbar wird das in der Aufstellungsarbeit, weil dort verdeckte Dynamiken in Systemen auf einfache Weise sichtbar werden. 

Ein Beispiel, das wir alle kennen: Plötzlich kommt heraus, dass der scheinbar richtige Vater nicht der Vater ist und die Mutter oder die «Eltern» das dem Kind nicht mitgeteilt haben. Eine grosse Verunsicherung für die Identität des Kindes. Das Vertrauen ist beeinträchtigt und das Kind ist orientierungslos, was es in Zukunft glauben kann und was nicht. Die Mutter hatte also ein Geheimnis und hat aus der Sicht des Kindes gelogen. Die Verunsicherung des Kindes ist gross, denn wenn eine so vertraute Person wie die Mutter nicht die Wahrheit sagt, dann ist auch das Vertrauen zu weniger nahestehenden Menschen in Mitleidenschaft gezogen.

Wie sieht es aus der Sicht der Mutter aus?

Da mögen andere Beweggründe entscheidend  sein. Eigene Scham- und Schuldgefühle sind häufig ein Motiv. Schuld- und Schamgefühle entstehen, wenn grundlegende Bedürfnisse (scheinbar) gefährdet sind: Zugehörigkeit, Akzeptanz und Würde. Ist auch nur eines dieser menschlichen Grundbedürfnisse nicht erfüllt oder besteht die Gefahr, dass ein Teil oder alle dieser Bedürfnisse von der Umwelt nicht erfüllt werden, entsteht häufig ein zerstörerischer Ablauf.

Um sich der Wahrheit und dieser grundsätzlichen Zurückweisung nicht auszusetzen, entwickelt sich durch Vermeidung, Vertuschung und Lüge nach und nach das ausgewachsene Geheimnis. Immer dazu gehören auch die innere Beschwichtigung und die Maske des «Nett-Seins» nach aussen hin. Im Innern entsteht ein Hamsterrad der Gedanken. Vermeidung und Beschwichtigung, Selbstabwertung und Selbstanklage wechseln einander ab. Ein Teufelskreis, der die Lebensenergie bremst, manchmal bis zur Lähmung. Der einzige Weg, dieser Lähmung zu entkommen ist, mutig die Wahrheit auszusprechen.

Was ist muss sein dürfen

Ein systemischer Grundsatz heisst «Was ist muss sein dürfen». Wenn Handlungen und Ereignisse aus dieser Perspektive angeschaut und nicht bewertet und mit Moral belegt werden, wird es einfacher, sich der Wahrheit anzunähern, weil keine Schuld und Scham ausgelöst werden, sondern Trauer und Bedauern. Es entstehen also keine Gedanken darüber, wer was tun müsste oder hätte tun müssen, sondern es entstehen Gefühle, die wahrgenommen werden können. Und diese führen zu erfüllten oder unerfüllten Bedürfnissen, die wahrgenommen und wenn sie wichtig sind, ausgedrückt werden können. 

Wo ist die Grenze?

In meiner Wahrnehmung entsteht das Zerstörerische an einer Vermeidung oder einem Geheimnis dann, wenn es für das Familiensystem relevant wird. Selbstverständlich ist einer neuer Mensch auf der Welt für jedes Familiensystem relevant und das Kind hat ein Anrecht darauf zu wissen, wer seine Eltern sind und wie es entstanden ist. 

Anders ist es, wenn es um jede Art von Beziehung geht. Hier gibt es mehrere Aspekte. 

  • Wie sehr vertraut eine Person sich selbst, damit sie auch dem Gegenüber vertrauen kann? Grundvertrauen hat etwas mit sich selbst zu tun. Das Gegenüber braucht nichts zu «tun», also zu leisten, um sich das Vertrauen zu verdienen. Ob jemand Vertrauen in sich selbst hat, dadurch mutig ist und (s)eine Wahrheit in die Welt bringt, hat mit einem inneren Prozess zu tun.
  • Ist das unausgesprochene Thema relevant für die Beziehung, wird es zum Geheimnis und es ist Zeit, dieses zu lüften. Ist etwas Unausgesprochenes für die Beziehung nicht relevant, dann ist es nicht nötig, es auszusprechen. Im Gegenteil, manchmal ist es für die Person ein Entwicklungsschritt, nicht sofort alles mitzuteilen. Beispielsweise weil man es schlecht aushält, nicht «alles gesagt» zu haben. Manchmal ist diese Relevanz sehr unklar. Sofortige Klärung bringt eine Aufstellung, da die verdeckten Dynamiken umgehend sichtbar werden.
  • Genaue Vereinbarungen sind in einer Beziehung wichtig. Wenn zum Beispiel in einer Partnerschaft die Abmachung gilt, dass man einander treu ist, ist das eine andere Vereinbarung, als wenn klar ist, dass Aussenbeziehungen gegenseitig toleriert werden. Doch auch wenn im ersten Moment alles klar scheint, braucht es Gespräche und Verhandeln. Was bedeutet treu? Bedeutet das keinen Sex mit jemand anderem zu haben oder ist damit gemeint, dass auch ein Flirt nicht mehr erlaubt ist? Darüber zu sprechen, offen und ehrlich, klärt die eigene Wahrheit und gibt viel Verständnis für das Gegenüber.

Ein Geheimnis lüften

Wenn ein Mensch ein Geheimnis offenlegt, dann macht er von sich aus eine Bewegung der Öffnung und sagt: «Schau mal, ich mache hier mein “Fenster” auf und zeige dir etwas von mir, was mir sehr wertvoll ist.» Wenn das Gegenüber entsetzt oder irritiert ist oder sagt, dass es verletzt ist, kann die Person, die das Geheimnis öffnet, sich fragen: «Welche Gefühle lösen diese Reaktionen in mir aus?» und kann diese Gefühle wahrnehmen und benennen. Vielleicht entsteht Trauer. Dann könnte die Person sagen: «Es macht mich traurig, dass du dich verletzt fühlst. Ich wäre froh, wenn du mein Geheimnis  nicht persönlich nehmen, sondern sehen würdest, dass ich einen Prozess durchmachen musste, um das überhaupt sagen zu können.» Und dann ist die Frage ans Gegenüber: «Wie ist die Sicht für dich?» Damit bist du sofort im Gespräch. 

Sinnvoll ist es auch, so lange im Gespräch zu bleiben und alle Unklarheiten zu besprechen, bis es ruhig wird. Es braucht manchmal Geduld, doch die lohnt sich.

Die Kommunikation ist bei jedem Geheimnis ähnlich, wenn man es öffnet. Es ist egal, ob es  klein oder groß ist.

Hier ist der Link zum Video, das Manuela Komorek und ich zum Thema Geheimnis und Wahrheit kürzlich aufgenommen haben. Viel Freude und Inspiration damit!